Emre Demirdas – „Zwischen Gleisbau, Sprinttraining und großer Leidenschaft fürs Schwimmen“
„Jeder muss seinen eigenen Weg finden – meiner war nicht immer geplant, aber er passt zu mir.“
Wenn man mit Emre Demirdas spricht, merkt man schnell: Hier sitzt ein Schwimmer, der seinen Weg nicht dem Zufall überlassen hat – und trotzdem offen genug war, Chancen anzunehmen, wenn sie sich boten. Heute ist Emre 25 Jahre alt, trainiert am Bundesstützpunkt Essen, sprintet über die kurzen Distanzen – und arbeitet gleichzeitig als Projektingenieur im Gleisbau. Wie er dahin gekommen ist? Eine Story voller Umwege, ehrlicher Entscheidungen und klarem Fokus auf das, was wirklich zählt.
Vom Schwimmkurs in Wuppertal bis zum Bundesstützpunkt Essen
Mit sieben Jahren hat Emre in Wuppertal-Fohwinkel schwimmen gelernt – noch ganz ohne Leistungssport. Erst mit 13 wechselte er zum ASV Wuppertal, wo erstmals richtige Trainingsbedingungen warteten: Langbahn, Kraftraum, Athletikhalle. „Da habe ich gemerkt, dass ich ein bisschen schneller bin als andere“, erinnert er sich. Zwei Jahre später zog er weiter zu Bayer, wo er fast ein Jahrzehnt blieb. 2023 dann der Schritt nach Essen – ein Wechsel, den er rückblickend als „absolut richtig“ beschreibt: „Ich habe sofort gemerkt, dass die Trainingskultur hier eine andere ist. Der Sportler steht im Mittelpunkt und das Vertrauen ist deutlich spürbar.“
Abitur, Studienwahl und die Frage: „USA oder Deutschland?“
Als Emre 18 war, war das Thema „USA-Stipendium“ noch nicht so präsent wie heute. „Damals hat man nicht schon mit 15 Instagram-Nachrichten von Scouts bekommen“, lacht er. Für ihn stand schnell fest: Studium in Deutschland. Aber was? Er fragte ältere Schwimmer um Rat – und landete bei Verkehrswirtschaft und Ingenieurwesen in Wuppertal. Drei Gründe gaben den Ausschlag: kein Numerus Clausus, keine Anwesenheitspflicht und ein Campus in nur zehn Minuten Entfernung von Schwimmbad und Elternhaus. „Das hat mir unglaublich geholfen, Studium und Sport zu verbinden. Ich konnte mein Tempo selbst bestimmen.“ Den Bachelor und Master absolvierte er in fünfeinhalb Jahren – trotz voller Trainingspläne.
Masterarbeit in Essen, Abschluss in der Tasche
Kurz vor Ende des Studiums wechselte Emre nach Essen. Während er hier schon im Sprinttraining stand, schrieb er parallel seine Masterarbeit. Frühtraining, ab in die Uni-Bib, dann wieder Wasser – ein Rhythmus, der für ihn passte. „Ich war nie unter großem Druck, weil ich selbst entscheiden konnte, wie viel ich wann mache.“ Im Mai 2023 hielt er den Masterabschluss in den Händen – und fand fast nahtlos den Berufseinstieg.
Projektingenieur in Teilzeit: Bauüberwachung am Gleis
Heute arbeitet Emre bei einem Ingenieurbüro im Bereich Gleisbau. Die Stelle kam über Kontakte zustande – und passte perfekt. „Teilzeit war sofort möglich, aktuell arbeite ich 80 Prozent. Das Büro ist entspannt, Gleitzeit gibt es auch. Wenn ich vom Frühtraining komme, starte ich eben erst gegen neun.“ Auf den Baustellen in Essen, etwa am Hauptbahnhof, überwacht er den Ablauf, koordiniert Prozesse und ist Bindeglied zwischen Planung und Umsetzung. „Klar, es gibt stressige Phasen. Aber ich habe das Glück, dass mein Arbeitgeber Leistungssport respektiert.“
Ein Alltag zwischen Baustelle und Becken
Emres Woche ist eng getaktet:
Training: acht Wassereinheiten (je 2 h), zwei Krafttrainings (je 1,5 h), zwei Athletik-Sessions. Macht ca. 23–24 Stunden reines Training.
Arbeit: rund 32–35 Stunden pro Woche, meist flexibel einteilbar.
Pendeln: von Wuppertal nach Essen – rund 25 Minuten über die A535.
Dazu kommt Regeneration – und die sozialen Kontakte, die Emre bewusst aufs Wochenende legt. „Ich habe das Glück, noch viele Freunde aus Schule und Uni zu haben. Das hält mich auch mal aus der Schwimm-Bubble raus.“
Was hilft – und was herausfordert
Gut läuft:
– flexible Strukturen im Studium („keine Anwesenheitspflicht war Gold wert“)
– ein Arbeitgeber, der Verständnis hat
– kurze Wege zwischen Arbeit, Training und Zuhause
Herausforderungen:
– manchmal Kollisionen zwischen Baustellenterminen und Training
– wenig Freizeit unter der Woche („eine Freundin wäre aktuell kaum unterzubringen“)
– das Jonglieren zwischen Vollgas im Sport und Verantwortung im Job
„Es ist kein Zuckerschlecken“, gibt Emre zu. „Manchmal muss man Opfer bringen, etwa beim Privatleben. Aber wenn man ehrlich kommuniziert, lässt sich vieles regeln.“
Rückblick & Ratschläge
Auf die Frage, ob er den gleichen Weg wieder einschlagen würde, zögert Emre nicht: „Ja. Auch wenn nicht alles geplant war, es hat sich gut gefügt.“ Sein Tipp für Jüngere:
👉 Zeit lassen. „Ein, zwei Jahre länger im Studium – das interessiert später keinen.“
👉 Erkundigt euch. „Redet mit Älteren, fragt nach Erfahrungen. So bin ich auf meinen Studiengang gekommen.“
👉 Ehrlich bleiben. „Im Bewerbungsgespräch gleich klar machen, dass man Leistungssportler ist. Dann gibt es später keine bösen Überraschungen.“
Kritik am System – und Wünsche für die Zukunft
Emre wird nachdenklich, wenn es um Strukturen im deutschen Sport geht:
– Fehlende Komplexe: „In den USA sind Sport und Uni viel enger verzahnt. In Deutschland müsste man an ein paar zentralen Standorten wirklich große Sport-Campus schaffen.“
– Förderung: „Ein Olympiakader-Schwimmer bekommt knapp 2.000 netto – davon bleibt am Ende nichts übrig.“
– Mediale Aufmerksamkeit: „Schwimmen ist in Deutschland einfach nicht Mainstream. Fußball überstrahlt alles. Dabei gäbe es so viele Möglichkeiten, Wettkämpfe attraktiver zu machen – etwa durch mehr Teamformate wie DMS.“
Der Blick nach vorn
Sportlich bleibt Emre ambitioniert. Mit der starken Trainingsgruppe in Essen – inklusive Rückkehrern wie Cedric oder Philipp – sieht er viel Potenzial. Beruflich will er sich im Ingenieurwesen weiterentwickeln, vielleicht irgendwann Richtung Projektleitung. Und privat? „Der Schritt aus dem Elternhaus wird irgendwann kommen. Aber solange ich aktiv schwimme, ist das Modell Zuhause + Pendeln perfekt.“
Fazit
Emre Demirdas zeigt, dass Leistungssport in Deutschland auch ohne Internat oder Auslandsstipendium funktionieren kann – wenn man flexibel bleibt, Unterstützung hat und eigene Prioritäten setzt. Seine Geschichte macht Mut: Es gibt nicht den einen richtigen Weg. Es gibt viele. Und Emres Version davon ist ein gutes Beispiel, dass Leistungssport und berufliche Zukunft sich nicht ausschließen – sondern gegenseitig beflügeln können.