„Zwischen Schwimmbahn und Labor“ – wie Simon Reinke seinen Weg findet
Wenn man Simon Reinke zuhört, merkt man schnell: Hier spricht jemand, der seinen Alltag ziemlich im Griff hat – auch wenn der vollgestopft ist wie ein Wettkampfkalender. Der 19‑Jährige schwimmt seit fünf Jahren für die SG Essen und gehört längst zu den festen Größen im Team am Bundesstützpunkt und in Deutschland. Parallel dazu studiert er Biochemie an der Ruhr‑Universität Bochum. Klingt nach einem ziemlichen Spagat – und genau das ist es auch.
„Ich komme locker auf 60 Wochenstunden – 30 fürs Training, 30 fürs Studium. Das ist eigentlich ein Fulltime‑Job und ein Studium on top“, sagt Simon. Und trotzdem wirkt er entspannt.
Von Herford nach Essen – mit 14 ins Internat
Seine ersten Bahnen drehte Simon beim SC Herford, einem kleineren Verein in Ostwestfalen. Mit 14 wechselte er nach Essen – und direkt ins Internat. „Klar, das ist jung, aber ich war sofort in dieser Bubble mit anderen Sportlern. Das war schon cool: den ganzen Tag mit Freunden, Training auf Top‑Niveau, einfach alles rund um den Sport.“
Heute wohnt er nicht mehr im Internat, sondern in einer eigenen Wohnung in Rüttenscheid. „Hier triffst du an jeder Ecke Schwimmer“, lacht er.
Biochemie statt Amerika – die große Entscheidung
Nach dem Abitur stand Simon vor einer Frage, die viele junge Athlet*innen umtreibt: Gehe ich in die USA oder bleibe ich in Deutschland? „Ich habe mir die amerikanischen Colleges angeschaut, mit Coaches gesprochen und viele Optionen geprüft. Das System dort – Sport und Uni in einem – ist schon reizvoll.“
Am Ende entschied er sich bewusst für Deutschland – und für Essen. Ein Grund war sein Einstieg ins Freiwasserschwimmen: „Wenn du in die USA gehst, verlierst du deinen Kaderstatus im Freiwasser. Das hätte bedeutet, keine Europacups oder Qualis mehr. Das wollte ich mir nicht nehmen lassen.“
Und da ist noch etwas: „Ich habe mir hier in Essen ein Leben aufgebaut – Freunde, Trainingsumfeld, Uni. Und meine Familie ist nur eine Stunde entfernt. Da bin ich schnell zu Hause, wenn mal was ist.“
Zwischen Schwimmhalle und Hörsaal
Sein Studiengang Biochemie hat es in sich. Viel Laborzeit, viele Praktika, wenig Flexibilität. „Das ist hier in Deutschland echt die Herausforderung. In den USA legen sie die Praktika so, dass sie zum Sport passen. Bei uns sind das zwei getrennte Systeme.“
Simon hat seinen Weg gefunden: „Ich werde sicher nicht in Regelstudienzeit fertig. Aber das ist okay. Ich schiebe Praktika so, dass sie mit Trainingslagern und Wettkämpfen nicht kollidieren.“ Struktur ist dabei sein Zauberwort: „Mein Tag ist durchgetaktet von morgens bis abends. Nur so kriegst du 30 Stunden Sport und 30 Stunden Uni auf 7×24 Stunden runter.“
Was hilft – und wo es hakt
Eine große Stütze sind für Simon auch seine Uni‑Freunde: „Die halten mich auf dem Laufenden, wenn ich im Trainingslager bin, schicken mir Unterlagen und erklären Sachen.“ Außerdem gibt es an der Uni den Hochschulsportbeauftragten – eine Anlaufstelle, die aber längst nicht allen Studierenden bekannt ist. „Das System wie am Sportgymnasium – mit enger Abstimmung zwischen Schule und Trainern – fehlt an der Uni. Da stehen wir Leistungssportler erstmal alleine da.“
Und dann sind da die Dozent*innen: „Viele sehen die 30 Stunden Training eher als Hobby. Dass es Leistungssport auf höchstem Niveau ist, verstehen manche nicht. Da müssen wir Athleten lauter werden und für Aufklärung sorgen.“
Unterstützung, Finanzierung und Bundeswehr‑Pläne
Finanziell geht es dank Sportstiftung NRW, Sporthilfe und Stadt Essen. „Wir sind hier in NRW echt gut aufgestellt.“ Zusätzlich hat Simon sich für die Sportfördergruppe der Bundeswehr beworben. „Das gibt nochmal eine große Sicherheit. Klar, da kommen ein paar Lehrgänge dazu, aber im Alltag bedeutet das vor allem: mehr Planbarkeit und finanzielle Stabilität.“
Familie, Freunde und der ganz normale Wahnsinn
Trotz vollem Kalender nimmt sich Simon Zeit für seine Familie. „Fast jedes Wochenende fahre ich nach Hause. Samstags nach dem Training geht’s los, abends ist Krimiabend mit der Familie, sonntags Omas besuchen – und abends wieder zurück nach Essen.“
Freunde? „Mein Sozialleben ist natürlich sehr sportlastig. Aber durchs Studium habe ich jetzt auch einen Kreis außerhalb des Schwimmens. Das tut gut und erweitert den Horizont.“
Rückschläge, Zweifel und das Lernen, sich selbst zu vertrauen
Der Start an der Uni war hart: „Direkt Trainingslager, dazu Klausuren, Professoren, die nicht so flexibel waren – das war schon herausfordernd. Da fragst du dich: War das die richtige Entscheidung?“
Was ihm geholfen hat? „Am Ende musst du deinen eigenen Weg finden. Du hörst viele Meinungen – USA, Deutschland, dies oder das. Aber du darfst dich nicht treiben lassen, sondern musst schauen, was für dich passt.“
Reisen, Teamgeist und das große Warum
Warum tut er sich diesen Wahnsinn eigentlich an? Simon lächelt: „Weil ich unfassbar viel zurückbekomme. In den letzten sechs Monaten war ich in Belgrad, in der Sierra Nevada, auf Ibiza, bald geht’s nach Setúbal. Ich sehe die Welt, erlebe das mit meinen Freunden – das ist ein Privileg, das nicht viele in meinem Alter haben.“
Gleichzeitig baut er sich mit dem Studium ein zweites Standbein auf: „Schwimmen ist in Deutschland kein Beruf. Also brauche ich einen Weg danach – und Biochemie begeistert mich. Vor allem Forschung zu Neuropharmaka finde ich mega spannend.“
Blick nach vorn
Langfristig will Simon seinen Master machen, vielleicht auch promovieren – und natürlich weiter schwimmen. „In drei bis fünf Jahren sehe ich mich genau da, wo ich jetzt bin: in Essen, im Studium, im Schwimmsport. Ich fühle mich wohl in meinem Kreis.“
Und für die Nachwuchssportler*innen hat er einen klaren Rat: „Amerika ist nicht das Nonplusultra. Es ist eine Option, klar. Aber auch in Deutschland kannst du Studium und Spitzensport verbinden – wenn du bereit bist, dir Struktur zu geben und deinen eigenen Weg zu gehen.“
Fazit
Simons Geschichte zeigt: Der Weg nach der Schule ist nicht geradlinig – und das muss er auch nicht sein. Ob USA oder Deutschland, Uni oder Ausbildung, Sportsoldat oder Vollzeitstudent: Es gibt viele Modelle. Wichtig ist, dass jede*r seinen eigenen Weg findet – und dass Strukturen in Deutschland weiter verbessert werden.
Für Simon funktioniert der Spagat zwischen Schwimmbahn und Labor. Mit Disziplin, Struktur – und einer guten Portion Leidenschaft.